Ein kurzer Abriss über die Geschichte des Tätowierens in Europa
Hannah T. Wagner, November 2020
Historische Tattoos werden in der “westlichen Welt” oft mit fernen Ländern und fremden Kulturen assoziiert. Der älteste Beleg für tätowierte menschliche Haut stammt jedoch aus dem zentral in Europa gelegenen Südtirol. 1991 wurde in den Ötztaler Alpen der mumifizierte Körper eines Mannes gefunden (wir kennen ihn als “Ötzi”), dessen Haut eine Vielzahl von Tätowierungen aufwies. Bei der Radiokohlenstoffdatierung wurde das Alter der Mumie mit etwa 5300 Jahren bestimmt. Ötzis Tätowierungen lassen möglicherweise auf medizinische Zwecke schließen, da sie sich an Körperstellen befinden, an denen er nachweislich gesundheitliche Probleme hatte. Jedoch lässt sich über die Bedeutung und den Zweck nach wie vor nur spekulieren. Hergestellt wurden diese Tattoos wahrscheinlich, indem die Haut geritzt oder gestochen und Ruß in die offenen Stellen gerieben wurde.
Tätowierungen, die beinahe das selbe Alter aufweisen, fand man an einer Vielzahl von Orten, zum Beispiel in Ägypten, wo durch die gängige Praxis des Mumifizierens einige solcher Beispiele erhalten geblieben sind. Im Gegensatz zu den Tätowierungen von Ötzi fand man hier nicht nur geometrische Muster, sondern auch figurative Darstellungen.
Besonders imposante Beispiele durch Mumifizierung erhaltener Tätowierungen sind eine unbenannte, etwa 3000 Jahre alte weibliche Mumie, entdeckt 2014 in Deir el-Medina, Ägypten, und die Prinzessin von Ukok, die 1993, etwa 2500 Jahre nach ihrem Tod in der Republik Altai in Sibirien gefunden wurde.
Werkzeuge, die möglicherweise zum Tätowieren verwendet wurden, weisen jedoch mit etwa 76.000 bis 84.000 Jahren ein weit höheres Alter auf. 1991 in der Blombos-Höhle in Südafrika entdeckt, geben die zugespitzten Knochenfragmente durch Ocker-Reste an ihren Spitzen Hinweise auf ihren möglichen Zweck.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die oben genannten Personen freiwillig tätowieren ließen, sei es aus medizinischen, rituellen, dekorativen oder religiösen Gründen.
Im Rom und Griechenland der Antike war es jedoch üblich, Tätowierungen als Strafe oder als Zeichen der Eigentümerschaft einzusetzen. Diese Praktik war Sklaven vorbehalten und prägte den Begriff der Stigmatisierung (Stigma, wörtlich „Stich-, Punkt-, Wund- oder Brandmal“) und war so weit verbreitet, dass Sklaven auch als “inscriptus” (inscribo – etwas mit einer Inschrift versehen) oder “litteratus” (mit Buchstaben bezeichnet) bekannt waren. Mitglieder frühchristlicher Gemeinden, die ihre Versklavung überlebten, sahen ihre Straftätowierungen als Zeichen ihres Märtyrertums und ließen sich daraufhin als Beweis für ihren “Loskauf” durch Gott christliche Symbole tätowieren oder einbrennen (Quelle: Iris Därmann, Unter die Haut. Tätowierungen als Logo- und Piktogramme, Paderborn 2017, S. 33).
Für die freien Griechen der Antike kamen Tätowierungen nicht infrage, für sie waren sie etwas “Barbarisches”, was ihre tätowierten Feinde, Kriminelle und Sklaven von ihnen unterschied.
Die Assoziation mit Fremdartigkeit und Kriminalität flammte in Europa jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts wieder auf. Mehrere europäische Wissenschaftler begannen aufgrund eines deutschen Kriminalfalles Studien zu erstellen, um die “arbeitende Klasse” von der “gefährlichen Klasse“ zu unterscheiden, jedoch immer in der Annahme, dass Personen mit Tätowierungen antisozial und gefährlich wären (Quelle: Eero Wahlstedt, Tattoos and Criminality, St. Petersburg 2010, Introduction). Systematische Aufzeichnungen über Tätowierungen gab es zu dieser Zeit nur zum Zweck der Identifikation und das betraf hauptsächlich Kriminelle, Seefahrer und Soldaten. Es konnte also kein qualifizierter Vergleich zur Häufigkeit in der Gesamtbevölkerung angestellt werden.
Mitte des 18. Jahrhunderts brachte der britische Kapitän James Cook von seinen Expeditionen in den Südpazifik den polynesischen Begriff “Tatau” mit, von dem das Wort “Tattoo” abgeleitet wurde. Der sogenannte “Cook-Mythos” besagt, dass das Tätowieren, wie es heutzutage bei uns praktiziert wird, eine direkte Folge der europäischen Expansion in den Südpazifik war.
So stieg zwar der Bekanntheitsgrad der Tradition der Seefahrertattoos (ebenfalls eine Assoziation mit Personen, die am Rand der Gesellschaft stehen), jedoch waren Tätowierungen seit der Antike nie aus Europa verschwunden und auch nicht durchwegs negativ konnotiert.
Etwa vom 15. bis zum 19. Jahrhundert waren Tattoos vor allem als Wallfahrts-Erinnerungen auf Pilgern sichtbar – eine Tradition, die wahrscheinlich schon in der Zeit der Kreuzzüge begann. Die Motive waren meist vorgefertigte Designs mit christlicher Symbolik, welche teilweise mit Holzstempeln auf die Haut aufgetragen wurden. Jedoch gibt es aus dieser Zeit auch Belege für individuell angefertigte Tattoos, die keinen religiösen Hintergrund hatten, sondern zur Ehre von Monarchen gestochen wurden.
In den 1880er-Jahren kam es in Großbritannien zu einem regelrechten Tattoo-Boom, unter anderem weil bekannt wurde, dass einige Adelige, darunter auch Mitglieder des Königshauses, tätowiert waren. Etwa zur selben Zeit wurden die ersten Tattoo-Maschinen patentiert, was diesem Aufschwung natürlich entgegenkam. 1894 betrieb Sutherland Macdonald das erste öffentliche Tattoostudio in London und genoss – laut Volkskundler Adolf Spamer – den Ruf eines großen Künstlers und wurde sogar als europäischer „Raffael“ unter den Tätowierern bezeichnet.
Es entwickelte sich unter Europäern der Trend der Ganzkörpertätowierung, was oft in Zusammenhang mit der Zurschaustellung des Körpers und damit verbundenen Einnahmen stand. Tätowierte Menschen wurden jedoch schon lange davor in Zirkussen und fahrenden Varietés zur Schau gestellt. Es handelte sich dabei aber um verschleppte Indigene, die ihrer Heimat entrissen und wie Zootiere ausgestellt wurden. Viele dieser Menschen starben nach kurzer Zeit, oft an europäischen Krankheiten (Quelle: Stephan Oettermann, Zeichen auf der Haut, Frankfurt a.M. 1979, S. 28), ähnlich wie in den damals als “Völkerschau” bezeichneten Menschenzoos.
Anfang des 20. Jahrhunderts verdienten in Europa und in den USA viele tätowierte Menschen, vor allem Frauen, in Zirkussen und privaten Etablissements mit der Ausstellung ihrer Körper ihren Unterhalt. Dem wurde jedoch bald Einhalt geboten. 1911 wurde in Berlin der tätowierten Deutschen Marie Finke verboten, ihren Körper in ihrem eigens dafür angemieteten Lokal zur Schau zu stellen (Quelle: Tägliche Rundschau, 5. Februar 1911) – die sogenannte “Sittlichkeit” trat wieder mehr in den Vordergrund, ebenso Bedenken die Hygiene betreffend, was dazu führte, dass Tätowierungen immer häufiger versteckt und seltener angefertigt wurden.
Im nationalsozialistischen Deutschland wurde dann im Konzentrationslager Auschwitz die Idee des Tattoos als identitätsstiftender Ausdruck der Individualität pervertiert, indem man den inhaftierten Menschen Ziffern tätowierte. Diese sollten das Individuum auslöschen, das fortan nur noch als Nummer existierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen jedoch viele Überlebende mit Stolz ihre Nummer als Zeichen der Stärke, den Horror überlebt zu haben.
Die Nachkriegszeit brachte einen Aufwind für die bürgerliche Mittelschicht, in der Tätowierungen keine Bedeutung hatten. Über den Weg des Außenseitertums in den 1950ern, über die Subkultur in den 1960ern und zur Popkultur und dem Mainstream in den 1970ern erlebt das Tattoo nun erneut eine Renaissance, die bereits um einiges länger anhält als ihre vorangegangenen Episoden.
Tätowierungen waren über viele Kulturen und große Zeiträume hinweg ein positives Statussymbol, symbolisierten Familien- und Clanzugehörigkeit, waren ein Zeichen für Errungenschaften und ein Ritual der Initiation, und es scheint, als könne ihre streckenweise sehr negativ behaftete Geschichte nichts an der Faszination der Menschheit mit diesem uralten Handwerk, dieser Kunstform, ändern.